Ich bin allein und rücke einen Stuhl aus der Küche in das italienisch-moderne Ambiente vor den glänzenden Spiegel. Vorsichtig klettere ich auf den Stuhl und schaue in den Spiegel. Was für ein Schock! Bis dahin hatte ich mein Gesicht noch nie bewusst in einem Spiegel angeschaut. Ich erwarte beim Blick in den Spiegel, das schöne Gesicht meiner Mutter zu sehen, ihre langen blonden Locken, ihre strahlend blauen Augen, ihre mit rotem Lippenstift geschminkten, lächelnden Lippen. Und was sehe ich jetzt? Das Gesicht eines unscheinbaren kleinen Jungen mit kurz geschnittenen Haaren. Ich bin entsetzt und tief enttäuscht. Ich dachte, ich hätte die Schönheit des Gesichts meiner Mutter in mir. Ich dachte, ich sei meine Mutter! Was habe ich mit diesem kleinen Jungen zu tun? Es muss sich um einen Irrtum handeln. Vollkommen desillusioniert krabbele ich vom Stuhl und rücke ihn wieder auf seinen Platz, auf dass ja niemand etwas merkt.
Ich lege das Buch weg.
Ich gehe zum Spiegel im Badezimmer und schaue hinein. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter. Ihre grau-grünen Augen, ihren Mund. Ihre Haare, kastanienbraun mit grauen Strähnen. Dag Mama, sage ich, gehe wieder weg, denn sie hat Tränen in den Augen und kann nicht einmal sagen, warum. Ich nehme das Buch wieder auf. Der Schriftsteller heißt Kajo Nelles, er schreibt eine Familiengeschichte, er schreibt über die unfassbaren Veränderungen während der letzten 150 Jahre in einem Dorf in der Eifel.
Willst du etwas Schönes sehen? fragt Kajo, der Frühstück gemacht hat und leise den Raum betritt, um nachzusehen, ob alles da ist. Ich sitze an einem kleinen, runden Tisch mit weißer Tischdecke und Blick in die weite Eifellandschaft. Eine Kerze brennt, es gibt selbstgebackenes Brot, selbstgemachte Marmelade.
Der Tisch steht in der Ecke eines großen, hohen, viereckigen Raums mit einem schönen Holzfußboden. Eine leise Musik ertönt aus unsichtbaren Lautsprechern, ich habe das Gefühl, dass hier getanzt wird, ich kann nur den Tänzer noch nicht erkennen.
Das Haus, in dem ich diese Ferienwohnung gebucht habe, besteht aus Quadraten, die miteinander verbunden sind, einander ergänzen. Der Tanzsaal ist das Herz des Hauses, er gibt Zugang zu dem Wohnbereich des Gastgebers sowie zu dem Gästebereich. Eine quadratische Konstruktion aus Pfeilern und Mauern rahmt das gesamte Haus ein, vermittelt ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Gleichzeitig öffnet sie sich zur Landschaft, die durch die bodentiefen Fenster ins Haus geholt wird. Ich nicke.
Besuche die Bruder Klaus-Kapelle. Sie steht mitten auf einem Feld, wurde von Peter Zumthor entworfen. Mehr sage ich nicht dazu. Nach dem Frühstück fahre ich nach Wachendorf, parke das Auto, die Sonne scheint. Über die Feldwege wandere ich zur fünfeckigen Kapelle, die in der Ferne zu sehen ist. Eine dreieckige Tür führt in das Gotteshaus hinein. Es hat
Außenwände aus glattem Beton. Oben ist eine tropfenförmige Öffnung, auf dem Boden aus Zink und Blei spiegelt sich diese in Wasser. Die Wände wurden an der Innenseite von Baumstämmen geformt, gegen die der Beton gestampft wurde. Wo die Verbindungen zwischen Holz und Beton waren, hat man mundgeblasene Glasperlen angebracht, 350 Stück.
Sind das Fenster, die das Tageslicht in immer wechselnden Intensitäten in die Kapelle leiten, oder sind es kleine Spiegel, die mich anschauen? Es gibt brennende Kerzen, eine kleine Skulptur des Bruder Klaus und ein Meditationsrad an der Wand. Ich sehe nach oben in den tropfenförmigen Himmel.
Gestern ist vorbei, morgen noch lange nicht da, sagt Manfred. Was eben noch war, ist nicht mehr. Nur der Atem ist jetzt, er ist das Feuer, die Lebenskraft. Wir liegen auf Yoga-Matten in seinem Übungsraum und atmen. Versuchen, nicht an gestern oder morgen zu denken. Ich versuche, nicht an das Stipendium zu denken, an die Veranstaltungen, die noch organisiert werden müssen, an die Fördergelder, die noch gesammelt werden. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und auf den Sturm, der harte Regentropfen gegen die bodentiefen Fenster peitscht. Ich denke an die Kapelle, an 350 Spiegel. Oder sind das Augen? Fenster der Seele? Nach außen oder nach innen?
Du musst so lange in die Ecke pissen, bis es stinkt, sagt Lars Eidinger in der Kunsthalle Hamburg, wo seine Ausstellung zu sehen ist. Ich habe ihn nach einer Lebensweisheit gefragt, die ich im Falle einer in-die-Ecke-drängenden Frage verkünden kann. Er schreibt sie mir auf einen grünen Zettel. Ich danke ihm. So eine Weisheit kann man schon mal gebrauchen. Take your broken heart, and make it into art, schreibt er noch auf die Rückseite. Ich nicke.
Jeder hat seine Wahrheit, jeder lebt in seiner Person. Das Leben ist groß, überwältigend. Ich denke an den Tänzer, für den der Raum gedacht ist. Er hieß James und ist 1996 auf der Bühne in Kajos’ Armen nach einem Sturz gestorben.
Auf der Arbeit ist die Heizung ausgefallen. Es sind fast 11 Grad im Büro. Ich gehe über die Außentreppe in den Keller, der vom Starkregen im Sommer überflutet wurde, taste mir einen Weg durch die Baustelle, bis zur Ersatzheizung. Ich leuchte mit meinem Handy, sehe, dass die Ventile nicht aufgedreht sind. Ich drehe sie auf, gehe wieder nach oben, weiß, dass es heute nicht mehr richtig warm wird, denn die Fußbodenheizung ist träge.
Eine große Kiste ist heute mit der Post gekommen, verspätete
Weihnachtsgeschenke. Meine Hände sind so kalt, dass ich die Kiste fast nicht aufmachen kann. Aber dann sind da die Geschenke für meine
Kollegen und mich. Wärmende Kuscheldecken.
Hier sitze ich, Ende Januar, mit Mütze und Handschuhen am PC, alleine im Büro, eingehüllt in meinem Weihnachtsgeschenk. Ich setze einen Kaffee auf und zünde eine Kerze an.
Für James.
Comments