Die Zellmembran, der fette Türsteher, sagt der Vierzehnjährige. Er lernt gerade Chemie per Fernunterricht, Osmose, Diffusion und wie die Zelle funktioniert. Blutplasma.
Im Internet kann man dazu Filme anschauen.
Eigentlich geht der Vortrag über die semipermeable Membran, aber die Personen in diesem Film mit ihren verrückten Frisuren haben ihre eigenen Begriffe dafür. Sie bewegen sich schnell, laut und gut gelaunt. Sie schauen direkt in die Kamera und haben perfekte Zähne.
Jugendliche brauchen Vorbilder und Impulse. Sie suchen ihren Platz in der Welt. Sie wollen sich ausdrücken, ihre Spuren hinterlassen. Herausforderungen werden angenommen. Es werden auch Fehler gemacht, die jedoch gleich wieder vergessen werden. Nichts ist für immer, nichts ist, wie es aussieht. Sie wollen Aufmerksamkeit für ihre Sicht der Dinge, ihre Vision der Welt. Auch wenn die Lehrer schon schlafen.
Sie vernetzen sich, treffen sich online, planen die Realität, entwerfen die Zukunft. Sie nehmen auf die Eltern Rücksicht und erklären ihnen immer wieder das Gleiche. Nach langer Diskussion haben die Eltern sich geeinigt, welche Serie sie streamen wollen, die Kinder zeigen nochmal, wie die Fernbedienung der Playstation bedient wird.
Sie dürfen ihre Großeltern nicht besuchen. Die sollen jetzt ins Wohnzimmer gezoomt werden.
Die Großeltern warten nicht auf diesen Anruf. Sie sitzen nicht zufrieden auf der Terrasse unterm Baum mit frischgebackenem Kirschkuchen und Sahne. Sie sind im Fitnessstudio, beobachten dort, wer seine Maske nicht richtig aufhat. Der wird angezeigt.
Am Samstagmorgen fahren sie zum Einkaufen, sie stürzen sich entschieden ins Gedränge. Sie sind kurzsichtig und schaffen es nicht, den Abstand einzuhalten. Außerdem beschlägt die Brille. Aber endlich bekommt der Magerquarkeinkauf seinen Platz in der Welt, Trockenpflaumen und Leinsamen sind nun Themen nationaler Sicherheit. Und sie sind mittendrin, maskiert, ernst zu nehmen. Tafelspitz nicht vergessen! Saure Gurken aus dem Spreewald!
Ich denke an die Worte von Prof. Dr. Alexander Klar von der Hamburger Kunsthalle. Er wünscht sich, dass mehr Menschen den Weg zur Kunst finden. Sie sollen keine Alternative für einen Spaziergang in der Natur suchen, das sei wichtig für Körper und Geist, lieber sollen sie beim Einkaufen Zeit sparen. Nur kaufen, was gebraucht wird. Unnötiges anzuschleppen beschwere den Menschen. Kunst dagegen mache den Menschen leichter.
Das kenne ich. Wenn ich in einem kleinen Geschäft einkaufe, zum Beispiel bei Resi und Jörg, geht das schnell und einfach, der Laden blue befindet sich in der Altstadt von Aachen. Die Beratung passt, ich finde fast immer, was ich suche, und bin schnell wieder raus. Die Zeit reicht noch für einen Besuch in der Kunstgalerie. Wenn Manfred Lust hat, serviert er Espresso auf der Bank vor der Tür.
Dort sitze ich, im Schatten des Aachener Doms. Ich spüre den leichten Frühlingswind, es riecht nach Kaffee und Brot. Neben mir ist das karolingische Oktagon aus dem 8. Jahrhundert, das im Laufe der Jahrhunderte umgebaut, ausgebaut und renoviert wurde. Der Dom sieht wie eine Torte aus. Ich rieche Blüten und Straßenstaub.
Als ich durch einen Park in Hamburg lief, Planten un Blomen, fand ich eine Rose, die Aachener Dom heißt. Die Rose wurde von ihrer französischen Züchterin auch Pink Panther genannt oder Panthère Rose. Was das Ganze auch nicht besser macht. Sie ist dick, gefüllt und duftet ein bisschen süßlich.
Auf einer Terrasse sitzen einige Rentner, Gesichtsmaske unterm Kinn. Sie haben gerade den Dom besichtigt, Kerzen angezündet und tippen jetzt mit dem Zeigefinger auf ihr Smartphone. Sie fotografieren den Kirschkuchen mit Sahne auf ihrem Teller. Das Bild wird den Enkeln geschickt, damit die sehen, wie es ihnen so geht an diesem sonnigen Mittwoch Anfang Juni.
Und damit diese Jugendlichen sich mal mit dem echten Leben beschäftigen, statt nur mit Zellmembranen, Bild- und Plasmaschirmen. Mit Großplasmabildschirmen, weiß Gott.
Der Kaffee wird kalt.
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