Von wegen Kirschblütenfest, sagt Tom, als wir durch die Aachener Innenstadt laufen und die mickrigen Blüten betrachten. Das Wetter war sehr trocken, die Bäume haben nur kleine Blätter, sie sehen gar nicht gut aus. Call yourself a cherry blossom tree, spotte ich übermütig.
Ganz anders der Magnolienbaum, der schon seit hundert Jahren neben dem Aachener Dom steht und die mächtigen Äste in den Himmel ausbreitet, über und über mit dicken Blüten bedeckt, die rosa aufleuchten. Es gibt bestimmt jemanden, der ihn gießt. Kein Baum wird öfter fotografiert.
Schon hundert Jahre? Ich weiß es nicht. Er sieht so aus.
Wir gehen zum Domkeller, es gibt keinen freien Tisch mehr auf der ganzen Terrasse. Es ist Samstagnachmittag, die Sonne scheint, der Himmel ist tiefblau.
Die Studenten, die hier bedienen, sind überfordert, sie rennen mit den Getränken hin und her. Wir setzen uns zu einigen Bekannten, die in der Sonne Rosé trinken. Die Gläser leuchten in der Nachmittagssonne. Ich liebe Aachen, sagt Kerstin gerade. Ich liebe diese Zeit, wenn der Nachmittag langsam in den Abend übergeht. Wenn man den Namen der Bedienung kennt.
Andrea zeigt auf die Spitze der Kirche. Ein sanftes Rosa, das in ein leuchtendes Orange übergeht. Eine kleine Wolke mit goldenen Rändern hängt dort, leuchtet wie eine Theaterkulisse. Andrea ist Malerin und weiß, wie Farben wirken, wie sie zu leben anfangen können, wie wichtig das Licht ist, aber auch, warum die eine Kirche höher als der Dom ist. Sie zündet sich eine Zigarette an. Eine Runde Bier wird auf den Tisch gestellt, neue Striche auf den Bierdeckeln. Manfred holt Pizza. Wir lehnen uns an die alte Bruchsteinmauer, die die Sonnenwärme gespeichert hat.
Dieser Moment, so, wie er ist.
Ich denke an das Gespräch mit meinem Sohn heute Morgen. Das Mädchen, das schon seit einigen Jahren in ihn verliebt ist, wird in den Osterferien verreist sein. Sie wird zwei Wochen auf einem Reiterhof im Münsterland verbringen, in einem absoluten Funkloch. Das Leben mit sechzehn kann so verwirrend sein.
Ein Parfum kaufen, hat ein Freund ihm geraten. So eins, wo die Frauen total drauf abfahren. Er nennt eine Marke, von der ich dachte, nur eigensinnige ältere Französinnen würden sie an Weihnachten ihrem deutlich jüngeren Gatten schenken, voilà mon cher.
Die Gattin würde daraufhin aufstehen, sich den Rock glattstreichen und auf hohen Absätzen den Raum verlassen, die Frisur gebändigt, die Linie hinten auf den Feinstrümpfen schnurgerade.
Der Strumpfgürtel zeichnet sich deutlich unterm Seidenrock ab. Der Ehemann, le cher, würde das Parfum einige Tage später impulsiv seinem pensionierten, verwitweten Vater weiterschenken. Der würde seinem Sohn danken, es nachdenklich in der Hand halten, versuchen, den Flakon zu öffnen, es nach einer Weile schaffen, einige Male pumpen und falsch zielen, wobei er an die Strümpfe seiner Schwiegertochter denkt, an ihre Hochsteckfrisur und an café et un petit pain au chocolat am Morgen danach. Die Chaise-Longue würde noch Jahre später nach dem Parfum riechen.
Ob das jetzt zu Hause auch der Anfang von Duftwolken im Bad sein wird, im Wäschekorb, beim Frühstückstisch? Werde ich jedes Mal, wenn ich reinkomme, das Gefühl kriegen, dass Besuch da ist? Werde ich mich überhaupt noch zu Hause fühlen? Ich überlege, das Fast-Mädchen meines Sohnes anzurufen. Einfach mal checken, was es so vorhat.
Ich weiß natürlich, dass das ein absolutes No-Go ist.
Einige Tage später fängt es plötzlich zu schneien an. Die Landschaft, die gerade schon grün werden wollte, wird wieder weiß. Die Autos rutschen in den Graben. Ich denke an die Magnolie, hoffe, sie hält durch. Lang kann es nicht mehr Winter sein, es ist ja schon April. Christiane kommt mit einem Kuchen vorbei. Ich koche einen Kaffee. Wir sitzen eine Weile vorm Kamin und sehen uns das Schneegestöber an. Es gibt noch Gin und Tonic im Kühlschrank, sogar eine Gurke. Wir sehen uns an. Der Kuchen wandert in den Kühlschrank, Eiswürfel in die Gläser. Die Gurke wird fein geschnitten. Immerhin ist es Frühling, man darf sich vom Wetter nicht beirren lassen.
Abends spaziere ich durch die Schneelandschaft und höre laute Musik, die aus den Büschen kommt. Ein VW Jetta von 1987 ist hier geparkt, zwei Männer stehen um eine Bank, neben der sich Bierdosen und Wodkaflaschen aufstapeln. Ich frage sie, ob das ihr Auto sei. Sie sehen sich an, nein, überhaupt nicht. Erst als ich sage, wie toll ich es finde, wie schön, wie einzigartig, sagt einer der beiden, dass es eigentlich doch ihm gehört. Er hat es von einer alten Dame gekauft. Es hat nur 71.000 km auf dem Tacho. Er hatte Bedenken, es zuzugeben, von wegen Alkohol und fahren und so. Er würde es aber auf jeden Fall stehen lassen und ein Taxi nehmen. Ich sage, dass mich das nicht interessiert.
Es fährt ein Taxi vor, und eine dritte Person mit noch einer Kiste Bier steigt aus. Dort stehen sie, am Wanderweg, mit einer Bank voller Bier. Zusammen sind sie 170 Jahre alt. Sie versichern mir, dass sie alles sauber hinterlassen, und wieso ich nicht mittrinke, oder eine Zigarette? Bin ich wirklich nicht vom Ordnungsamt? Ich verabschiede mich und gehe weiter. Es wird langsam dunkel, und ich muss durch den Wald.
Die Musik ist noch lange zu hören.
Ich denke an den Magnolienbaum. Die Farben, die vor einigen Tagen so geleuchtet haben, sind jetzt unter einer Schicht Schnee verschwunden. Es ist kalt und nass, die Terrassen sind wieder leer, kein Mensch ist in der Stadt.
Tom kommt auf dem Fahrrad vorbei, die Jacke, die Überschuhe, die Handschuhe, der Helm, alles ist voller Schnee. Wir trinken Kaffee, bis er wieder aufgewärmt ist.
Seine Lieblingstiere sind Pinguine, sagt er.
You don’t say, antworte ich.
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https://www.domkeller.de/
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