Wie viele Greifvögel denn heute schon zu sehen waren, erkundigt sich Agnes. Ich schreibe zurück, keine. Der Rotmilan war heute nicht da, nur Krähen, die irgendeinen Plan hatten. Wenigstens die haben einen Plan, schreibt Agnes.
Sie sitze mit Malte am Frühstückstisch und hat sich die Flugzeug-App aufs Handy geladen. Wir sind nur acht Flugminuten von Köln entfernt, behauptet sie und schickt mir ein Foto von Malte und einem Corona-Bier.
Erst mal Gift mit Gift bekämpfen, Prost.
Wir haben Corona. Agnes, Christiane, Lena, Franziska, ich. Ich liege auf einer Decke im Garten und beobachte die blaue Juni-Luft, Agnes frühstückt mit Malte, er ist so klein, dass er kaum über die Tischkante schauen kann, man sieht nur seine schwarzen Knopfaugen und die weißen Wuschelhaare, er ist eine Art Hund.
Ich will weiterhin gucken, ob der Rotmilan kommt, kann aber den Feldstecher nicht halten, meine Arme haben keine Kraft. Mir ist schwindlig, ich habe Fieber. Ich sehe gerade noch, wie die Mauersegler scharfe Kurven vollführen, drehe mich um und schlafe wieder ein.
Vielleicht ist das der Normalzustand, denke ich. Vielleicht ist das Leben Corona und der Rest nur Einbildung. Wir leben alle in unserer eigenen Welt, isoliert voneinander, bewegungslos, teilnahmslos, fiebrig in den leeren Himmel blickend.
So ist es nicht, spricht Agnes eine Sprachnachricht ein, es fühlt sich nur so an, jetzt, im Nebel. Ich weiß das, ich hatte im März auch schon mal Corona.
Agathe wohnt in Düsseldorf. Sie erzählt mir, dass sich im März die Krähen gegen die Fensterscheiben stürzen. Sie kommen angeflogen und prallen gegen das Glas, zerkratzen es mit Schnäbeln und Klauen und verletzen sich dabei, sodass die Fenster voller Blut sind.
Ob sie in der Brutzeit ihr eigenes Spiegelbild als Konkurrenz sehen? Nichts würde helfen, keine Streifen auf dem Glas, keine CDs an Bändern, wenn die Krähen kommen, wäre kein Fenster mehr sicher. Es wäre wie in einem Horrorfilm.
Aber dieses Jahr seien keine da gewesen. Dieses Jahr im Frühjahr war alles ruhig. Ein Kuckuck hätte sich angesiedelt, und sobald sein Ruf erklingt, verschwinden die Krähen. Es ist wie ein Wunder. Keine schwarzen Federn mehr, blutverschmiert an den Fensterscheiben, kein Schimpfen, Kreischen, Kratzen und Krächzen, nur ein kühler, klarer Ruf aus dem tiefen Wald von Düsseldorf.
Ich möchte nicht den ganzen Tag nur an Vögel denken, daher versuche ich mir die Hände von Ingo vorzustellen. Wie sie den schönen Körper halten, ihn streicheln, sich über die Saiten bewegen. Wie es so leicht aussieht und gleichzeitig kraftvoll und berührend ist. Die Band spielt, Marcel gibt mir ein Glas Wein, das ganze Lokal bewegt sich im Rhythmus der Musik. Die Welt ist in Ordnung, der Keller ist die Welt, hier will ich bleiben. Im Cotton Club und sonst nirgendwo. Hier, mit dieser Musik, mit dieser Band, in diesem Moment liegt die Ewigkeit.
Chris spielt Saxophon, Jörg Gitarre. Ingo hält den Bass und weiß, wie sinnlich sein Spiel aussieht. Die beiden anderen Musiker kenne ich nicht.
Ein richtig schlimmer Finger, der da, meint der Mann, der neben mir steht, als er sieht, wie fasziniert ich die Handgriffe verfolge. Der weiß genau, was er da tut.
Ich hoffe, dass er das weiß. Letztendlich gibt er ein Konzert im coolsten Club Hamburgs. Ob wir hier im September eine Lesung organisieren können, erkundige ich mich später bei Patrick, einem der Inhaber. Vielleicht begleitet von einem oder zwei Musikern. Er nickt, so machen wir das.
Es ist Mittwochabend, ich komme von der Jurysitzung, die im Garten des Hotels Wedina stattgefunden hat. Es war ein sonniger Nachmittag, wir haben uns mit den vielen guten Texten und den Motivationsschreiben auseinandergesetzt, lange diskutiert und eine Stadtschreiberin ausgewählt, mit der die gesamte Jury zufrieden ist. Sie kommt im September in den Cotton Club und liest aus ihrem Werk.
Ich liege auf der Decke unterm Apfelbaum. Der Rotmilan schwebt hoch über dem Tal. Mauersegler begleiten ihn, sie zeigen, was sie drauf haben. Sie sollen sogar im Schlaf weiterfliegen, verbringen nur die Brutzeit im Nest. Die Krähen halten sich versteckt, sie brüten bestimmt wieder etwas aus. Die Elster lacht höhnisch.
Es geht mir langsam wieder besser. Ich schaue mir noch mal die Fotos vom Konzert auf dem Handy an. Ich bin sofort wieder da, tauche unter, in eine schwingende Höhle, höre die Musik, denke an Marcel und wie er mir ein kühles Glas Wein bringt.
Ich trinke jetzt ein Bier, schreibe ich Agnes.
Prost, antwortet sie.
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