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Autorenbildkatelijne7

Die rettenden Angler

Ich liebe diesen Job, sagt an einem kalten, klaren Frostmorgen Ende November ein leuchtend orangefarbener Mann, der mit einem Baufahrzeug angefahren kam, jetzt vor dem Haus steht und sich den Straßenbelag anschaut. Sein Kollege nickt, zündet sich eine Zigarette an.

Marode Straßen? Ha! Da habt ihr Arbeit, denke ich. Ich kenne da noch ein paar Brücken und einige Autobahnabschnitte, die… Aber ich halte mich zurück, geh ins Haus, koche ihnen einen Kaffee und bringe ihn raus.

Ich habe letzten Winter eine Frau vor dem Ertrinken gerettet, ergänzt der breitgebaute Mann von Straßen NRW. Sein Kollege nickt, er kennt die Geschichte. Ich nicht, ich warte, bin gespannt, von welchen Heldentaten er berichten wird. Die dunklen Umrisse der Eifel zeichnen sich in der Ferne ab. Die Windräder dort stehen wie feine Ausrufezeichen in der Landschaft. Ein kalter Wind weht, die Bäume sind kahl, ich bin bereit, ich höre. Das ist ja ein Service, zu Kaffee sagen wir nicht nein! 

Heute Nacht hat es gefroren, die braunen Blätter auf dem Boden haben weiße Ränder. Sie knistern mit dem Geräusch von feinem Glas, wenn man darüber läuft. Noch feiner als Kristallglas, das bei der Haushaltsauflösung in den Glascontainer landet, da keiner mehr solche Gläser haben möchte, sie sind zu klein, können nicht in die Spülmaschine und sehen altmodisch aus. Die Blätter sehen nicht altmodisch aus, sondern tot.

Ihr Mann war tot. Da wollte sie auch nicht mehr weiterleben, setzt der Straßenbauer endlich seine Geschichte fort. Sie wäre komplett bekleidet, mit Schuhen, Mantel und allem, in den See gegangen. Sie wäre bis zur Badeinsel geschwommen, habe sich dort im eisigen Wasser an einer Kordel festgehalten, darauf wartend, dass die Kälte sie betäuben und der Tod sie umarmen würde. Aber wir waren schneller. Der Kaffee ist gut. Der Kollege schnippt seine Zigarette weg, geht hinterher, tretet sie aus und hebt die Kippe auf. Ich nicke.

Der Straßenbauer erzählt, wie er und sein Anglerfreund in der Nähe am Ufer gestanden hätten, als sie beobachteten, wie sie ins Wasser ging. Sie hätten gerufen, gewinkt, machtlos in ihren Gummistiefeln am winterlichen Ufer stehend. Kurz habe er überlegt, hinterher zu schwimmen um sie zu retten, aber dann hätte er diesen abwegigen Gedanken schnell von sich geschoben, erstens würde sein Herz den Kälteschock nicht überleben und zweitens konnte er nicht schwimmen.

Aber dann hätten beide Männer sich angeschaut, einverständlich genickt, schnell den Zanderhaken an die Angel befestigt und sie ausgeworfen. Zwei Leinen surrten durch die Luft und landeten nebeneinander auf der Schulter und auf dem Arm der Frau. Mit viel Geschick holten sie die Leinen wieder ein, das Opfer leistete kaum Widerstand, es war geschwächt, ließ sich willenlos an Land ziehen.

Ein halbes Jahr später, so der Retter, wäre die Frau an einem sonnigen Tag im Mai wieder an den See gekommen. Sie zog ihre Schuhe aus und ging langsam über die Steine, legte Wiesenblumen ans Ufer ab.

Eine Weile stand sie da, schaute übers Wasser. Dann ging sie zu den Anglern und bedankte sich. Sie hätten ihr ein neues Leben ermöglicht. Sie wäre nach der Rettung in eine Klinik gebracht worden, wo sie einige Wochen verbracht habe, aber jetzt hätte das Leben erneut Farbe bekommen. Die schwarzen Vorhänge, die ihr die Sicht genommen hatten und sie erstickten, hätten sich aufgelöst. Sie könnte wieder sehen. Ihr Haus war noch da, der Garten blühte auf, die feinen Kristallgläser standen noch im Schrank. Das Foto ihres Ehemannes auf dem Klavier schaute sie ermunternd, fast belustigt an.

Ich verabschiede mich von dem Erzähler und seinem nickenden Kollegen, bringe die Kaffeetassen ins Haus, mach mich auf den Weg zur Arbeit.

Als ich einige Tage später in Travemünde bin, um mir ein Schiff anzusehen, das dort in der Werft liegt und renoviert wird, denke ich an die Frau aus der Eifel und an ihre rettenden Angler.

Die White Heather, eine Rennyacht, die 1909 in England zu Wasser gelassen wurde, wechselte im Laufe des Jahrhunderts einige Male den Eigentümer und lag jahrelang vernachlässigt im Mittelmeer, bis zwei Skipper aus dem Norden sie dort antrafen und kauften. Sie wurde nach Barcelona gebracht und von dort in den Norden transportiert. Jetzt liegt sie in der Werft in Travemünde. Die Innenverkleidung wurde entfernt, das Schiff wurde von Teer, Lack und Farbe befreit, die morschen Holzstücke ersetzt, die fehlenden Teile von einem Schreiner originalgetreu nachgebaut und eingesetzt.

Langsam findet sie zu ihrer ursprünglichen Ausstrahlung zurück. Sie hat noch viel Leben vor sich. Eigentlich fängt genau hier ein neues Leben an. Die Retter waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Ich gehe mit den Skippern André und Michael über das frisch renovierte Deck, sehe mir im Bauch des Schiffes die mächtige Konstruktion an, lasse die Hand über die glatt polierten Oberflächen gleiten und bin sprachlos vor Bewunderung. Dieses Schiff werden wir im Frühling taufen, auf diesem Schiff werden wir im Sommer segeln, hier werden wir feiern, uns das Leben vom Wasser aus ansehen.

Ich liebe diesen Job, sagt André.


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